Kopfgeburten
Tief drin im Kopf, irgendwo zwischen Stammhirn und Hypophyse, liegt bei manchen Menschen der unsichtbare Uterus. Das ist jener Ort, in dem die Ideen entstehen, jene Region, wo Sensibilität und Kreativität zuhause sind. Vermengen sich die dort entstehenden Ideen mit der Emotion des Bauchgefühls und der Geschicklichkeit der Hände, dann kann das entstehen, was wir gemeinhin mit Kunst assoziieren.
Als Kopfgeburten sind auch die Werke der Künstlerin denise.X! zu bezeichnen, welche unter geistigen Presswehen das Licht der Welt erblicken. Lebensgroße Köpfe aus Glas in Tiffanytechnik, die uns mit großen Augen seltsam starr betrachten, die unseren Blick zu erwidern scheinen und dennoch durch uns hindurch blicken. Diese Köpfe reden nicht und sagen in ihrer Sprachlosigkeit doch alles. Verraten auch weder der Röntgenblick der Augen noch die fehlende Mimik den Aggregationszustand der Gefühlswelt dieser rumpflosen, gar und gar zerbrechlich wirkenden, auf sich selbst reduzierten Glasköpfe, so scheint es in ihrem Inneren vor Emotion doch nur so zu brodeln.
Der blutrote „Feuerkopf"etwa tritt uns in einem Zustand entgegen, der eine unmittelbar bevorstehende Selbstentzündung befürchten lässt. Er verzehrt sich in seiner unstillbaren Sehnsucht nach explosiver Lust und Ausschweifung, mühsam korsettiert vom Anstand und der guten Erziehung, die man dem instinktorientierten homo erectus angedeihen lässt, auf dass er seine Triebe und Begierden im Rahmen der gesellschaftlich akzeptierten Normen beherrsche.
Dem irisierenden blauen „Wasserkopf“ hingegen steht das nasse Element buchstäblich bis zum Hals. Ein roter Fisch zieht in dem Aquarium, in dem sich der Wasserkopf befindet, seine Kreise um den Verzweifelten, gleichsam bereit, das starrende Antlitz bei seinem Abtauchen in die Tiefen des Unterbewusstseins zu begleiten.
Ein sprichwörtlicher „Eiertanz“ ist das dem gelben Eierschädel entwachsene Ei, eine eigene kleine Kopfgeburt, die von der Selbstherrlichkeit der Gesellschaft mit Ignoranz bestraft und wie dargestellt vom spitzen Absatz eines High Heels bedroht wird, der jederzeit die dünne Schale durchbohren könnte und damit die zarte Pflanze der Individualität zu zertreten imstande wäre.
Die Welt dreht sich um uns und wir drehen uns mit. Die Kritik der Künstlerin an key facts des modernen Lebens wie Globalisierung, Uniformität und Leistungsgesellschaft reflektiert der wie ein Globus in die Erdachse eingespannte „Inselkopf“. Er hat noch gar nicht bemerkt, wie drehbar und manipulierbar er selbst geworden ist.
Der „Generaldirektor“ hat schnell vergessen, welche Verantwortung ihm einst übertragen wurde. Stattdessen klebt er selbstherrlich am eigenen Sessel, einem Thron aus Glas und übt sein Amt in Egozentrik und Narzissmus gefangen aus.
Dem „Mammon“, anders als alle anderen Köpfe nicht aus Glas, sondern tatsächlich aus 375 „Goldmünzen“ gefertigt, wachsen Teufelshörner aus der Stirn, weil er vor lauter Raffgier nicht mehr daran denkt, was ihm im Leben einst einmal wirklich wichtig war.
Dem „Schachkönig“ ist nicht nur seine Dame abhanden gekommen, allein und verwaist steht er nun am Schachbrett des Lebens. Seine überdimensionale Krone drückt ihn mächtig, die Last der Verantwortung wird diesem König ohne Volk nun wohl vom jederzeit zum Zuschlagen bereiten Pöbel alsbald abgenommen. Das Exil, weit weg von der rauen Realität seines Daseins, ist noch die bessere Hoffnung des machtlosen Mächtigen. Doch auch der Märtyrertod des Despoten ist eine Option, die man dann so friedlich mit dem Wort „schachmatt“ umschreiben kann.
Einem „Herzbuben“ droht vor lauter Liebe und Hingabe der Kopf zu zerbersten, wie ein riesiges Furunkel presst sich ein rotes Herz aus den Tiefen des Gehirns. Ein zerrissener Liebender, der sich nicht entscheiden kann; es ist ganz offenbar. Folgerichtig ist dessen Blick als einziger all der Kopfgeburten der denise.X! nicht frontal dem Betrachter entgegen gerichtet ist. Mit weit geschlossenen Augen blickt er orientierungslos und im seitlichen Profil in die Ferne, unfähig, von dort eine Antwort zu erhalten.
Die Kopfgeburten der denise.X! sind stumme Aufschreie einer hochemotionalen Künstlerpersönlichkeit, sind drastische Appelle einer an den Parametern des Lebens rüttelnden Kreativen. Sie sind ebenso eindringliche künstlerische Botschaften wie ungehörte Hilferufe. Sie sind Sehnsuchtsbotschaften, angewandte Selbsttherapie und hoffnungsloses Akzeptieren des Nichtakzeptierbaren. Monumente des Willens, Zeugnisse des Alltags, Hinweisschilder für Blinde, Sehhilfe für Sehschwache und Lupfen für Hellsichtige.
Die Kopfgeburten der denise.X! stellen innovative Kraftakte im Spannungsfeld von Lust und Leidenschaft, von Kraft und Hoffnung, von Macht und Geld, von Willen und Wollen, von Können und Sollen dar. Sie sind Kunst gewordene Gedanken, Hoffnungen und Wünsche, materialisiert in Glas und Zinn.
Die Kopfgeburten sind ein Manifest gegen Oberflächlichkeit, Größenwahn und die Rücksichtslosigkeit einer materiell orientierten Gesellschaft, die ihre Wurzeln vergessen hat. Sie sind ein Plädoyer für Lebenslust, Leidenschaft und die Suche nach dem Glück in einer als unglücklich wahrgenommenen Welt.
Niemand, der diesen Köpfen so wie in der Atelierinszenierung der denise.X! in einem Wald von weißen Sockeln vor einer schwarzen Wand gegenüber steht, kann sich diesem Stakkato an Blickkontakten und Botschaften entziehen, kann diesem Mahlstrom an Intensität und Emotion etwas entgegen setzen.